Ist Burnout eine Modeerscheinung?

Heute gibt es Gastbeitrag von Tobias. Vielen Dank an dich!

In den letzten Monaten wird das Thema Burnout in den Medien immer wieder diskutiert. Der Stern titelte am 29.09.2011 “Total erschöpft – Wie dem Fußball-Trainer Ralf Ragnik geht es Millionen Frauen und Männern in Deutschland: Sie sind ausgebrannt – So erkennen Sie die Alarmzeichen und beugen rechtzeitig vor”. In seinem Leitartikel schildert der Stern recht detailliert Beispiele mehrerer Betroffener und geht wie ich finde recht erfolgreich auf die Suche nach den jeweiligen Ursachen für den Burnout.

Am 28.11.2011 liest sich der Titel des Focus ein wenig kritischer. “Die große Gefahr der falschen Therapie – Was ist Burnout? Was sind Depressionen?” titelte das Blatt

und zitierte neben anderen Fachleuten den Ärtztlichen Direktor einer Klinik am Chiemsee mit den Worten: “Wenn man objektiv diagnostiziert, haben mehr als die Hälfte dieser Menschen eine depressive Störung.” (Focus 48/11, Seite 81) In dem Artikel heißt es weiter, die übrigen litten unter Schlafstörungen, Angststörungen, Anpassungsstörungen oder anderen seelischen Problemen, die sich körperlich zeigen würden. Man würde die Diagnose Burnout mitunter stellen, weil sie im Gegensatz zu Diagnosen wie Depression oder Angstörung gesellschaftsfähig sei – so würden sich Betroffene bereitwillig(er) in Behandlung begeben.
In diesem Focus-Artikel sind kritische Untertöne unüberhörbar. Es bestehe die Gefahr, dass Depressionen nicht erkannt werden und der Hausarzt “im täglichen Medizinbetrieb” die falsche Diagnose stelle, die zu falschen Behandlungen und Ratschlägen führe. So ist Ruhe, in den Urlaub fahren oder einfach mal ausschlafen eben nicht das Mittel der Wahl, um bei einer wirklichen Depression wieder auf die Beine zu kommen.

Der Spiegel vom 06.02.2012 greift mit dem Titelthema “Die gestresste Seele – Was ist noch Erschöpfung? Was ist schon Krankheit?” diese kritischen Töne auf und konkretisiert sie.
An der erschreckenden Geschichte des heute gerne diagnostizierten ADHS zeigt der Spiegel die Gefahren auf, die sich hinter unpräzise formulierten Diagnosen verbergen können. Schon 1935 forschten Ärzte in den USA mit “zappeligen und unkonzentrierten Grundschülern” (Spiegel 6/06.02.2012 Seite 127). In den 1960er Jahren war es der US-Amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, der derartig auffälligen Kindern Psychopharmaka verabreichte und mit dem Wirkstoff Methylphenidat die gewünschten Erfolge erzielte. Seit 1968 gibt es die Diagnose “hyperkinetische Reaktion des Kindesalters” – und der Verbrauch von Methylphenidat wächst unaufhaltsam. Waren es 1993 noch 34 Kilogramm des Wirkstoffes, die in Form von Präparaten wie Ritalin in unseren Apotheken umgesetzt wurden, waren es 2011 bereits 1760 Kilogramm. Leon Eisenberg zeigte sich entsetzt über diese Entwicklung. Im letzten Interview vor seinem Tod sagte er 2009: “ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung.” (ebd. Seite 128) Das aber heißt, dass eine Unmenge von Kindern (und Erwachsenen) mit falschen Diagnosen und nicht angemessenen Medikationen durchs Leben gehen.
Eine ähnliche Entwicklung könnte, so der Spiegel, die Diagnose Burnout nehmen. Ich halte ein solches Szenario für gleichermaßen möglich und fatal.

Der Advent-Verlag zitiert auf seiner WebSite in der Rubrik “Adventisten heute Aktuell” ein idea “Pro und Contra” zu der Frage “Ist Burn-Out in der Kirche eine Modekrankheit?” In den beiden dort wiedergegebenen kurzen Statemenst fehlt mir eins ganz deutlich: Die Differenzierung zwischen der häufig ausgesprochenen und damit sicher “in Mode gekommenen” Diagnose Burnout auf der einen und dem häufig anzutreffenden und damit vielleicht auch “in Mode gekommenen” Zustand der permanenten Erschöpfung, Überforderung, Frustration und Unfähigkeit, seinen Alltag zu meistern, der zu eben dieser Diagnose führt, auf der anderen Seite. Zwischen beidem sehe ich einen gravierenden, wenn auch eventuell leicht zu übersehenden Unterschied.
Ärzte, Psychologen und Psychiater sind gefordert, fachlich korrekte und eindeutige Formulierungen zu finden, wenn verhindert werden soll, dass Burnout ein ähnliches Eigenleben entwickelt wie ADHS. An dieser Stelle von Modeerscheinungen zu sprechen scheint mir durchaus legitim. Und hier kann und darf die Fachwelt die Verantwortung für die richtigen Formulierungen nicht auf den Patienten abschieben. Vielleicht ist das auch ein Weg, Diagnosen wie Depression oder Angststörung gesellschaftsfähiger zu machen und zu entstigmatisieren.
Betroffene haben das Recht, in ihrem Erleben ernstgenommen zu werden. Einem Betroffenen gegenüber von einer Modekrankheit zu sprechen ist schlicht eine Unverschämtheit. Sicher gibt es Menschen, die auf der Burnout-Welle mitschwimmen – aber die gibt es bei jedem anderen Krankheitsbild auch. Mancher lässt sich beim ersten Hüsteln krankschreiben, manch anderer quält sich noch mit Triefnase und beginnender Lungenentzündung ins Büro oder an die Supermarktkasse. Bei psychischen Erkrankungen gibt es keine OP-Narben, keine Gipse oder Krücken, keine triefenden Nasen und verbrauchten Papiertaschentücher. Um so wichtiger ist es, dass Erkrankte nicht in die Situation gebracht werden, sich für ihre Erkrankung rechtfertigen zu müssen oder für ihr Erleben belächelt zu werden – völlig egal, wie die Fachleute dieses Erleben benennen. Eine Mode, die zu solchen Situationen führt, darf es nicht geben.
Kirche ist ein (gelegentlich zeitverzögerter) Spiegel der Gesellschaft, in der sie stattfindet. Gerade deshalb wäre die Differenzierung dieser beiden Ebenen in besagtem idea-Beitrag wichtig gewesen. Aber wir sind ja alle unterwegs…